Am 15. Dezember 2022 führte das Deutsch-Chinesische Programm Rechtskooperation der GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) einen Workshop zur Gestaltung eines fairen und tragfähigen Rentensystems durch. Der Workshop wurde gemeinsam mit der Haushaltsarbeitskommission (BAC) des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses der VR China durchgeführt, die bei bedeutenden finanz- und wirtschaftspolitischen Gesetzesvorhaben meist federführend ist. Die chinesischen Teilnehmenden kamen zuvorderst aus der Forschungsabteilung von BAC sowie vereinzelt aus dem Ministerium für Humanressourcen und Sozialsicherung und aus dem Finanzministerium. Das chinesische Interesse am Thema geht auf das Vorhaben der Regierung zurück, das Rentensystem durch eine Reform weiter zu vereinheitlichen sowie auf die Herausforderungen des demographischen Wandels zu reagieren. Dabei sollen auch Erfahrungen und „best practices“ aus Deutschland einfließen.
Eröffnet wurde der Workshop auf deutscher Seite durch Herrn Norbert Feige, Rechtsberater bei der GIZ in China. Während Deutschland als Geburtsland der Rentenversicherung bereits sehr weitreichende Erfahrungen sammeln konnte, so Herr Feige, stelle der demographische Wandel die Systeme in China wie in Deutschland heute vor ähnliche Herausforderungen. Gerade weil die Frage, wie die soziale Sicherheit im Alter ohne Abstriche bei der Generationengerechtigkeit garantiert werden könne, beide Länder gleichermaßen betreffe, eigne sich das Thema für den grenzübergreifenden Austausch. Dass der deutsch-chinesische Austausch zu Recht und Rechtsstaatlichkeit auch während der Pandemie aufrechterhalten werden konnte, sei nicht zuletzt ein Verdienst der GIZ, betonte Herr von Zhang Yongzhi, Leiter der Forschungsabteilung von BAC, in seinen darauffolgenden Eröffnungsworten. Für China komme die Veranstaltung zu einem günstigen Zeitpunkt, da umfassende Reformen des Rentensystems anstünden und da die Ausgabe von Finanzmitteln zur sozialen Sicherung zudem Schwerpunkt der diesjährigen Kontrollarbeit von BAC gegenüber Regierungsstellen sei. Ein wichtiges Ziel sei es, durch die soziale Sicherung im Alter einen Beitrag zu gesellschaftlicher Stabilität und zu sozialem Zusammenhalt in China zu leisten.
In Deutschland ist das System der gesetzlichen Rentenversicherung primär auf den Erhalt eines „angemessenen Lebensstandards“ im Alter ausgerichtet. Dabei bemisst sich die Angemessenheit jedoch nicht an den objektiven Bedürfnissen, sondern an der Einkommenshöhe des Versicherten im Erwerbsleben. So soll über die gesetzliche Rentenversicherung als tragende Säule der gewohnte Lebensstandard im Alter in etwa gehalten werden. Wie genau Beiträge und Leistungen in Deutschland ermittelt werden und wie die langfristige Finanzierung des Rentensystems gesichert wird, stand sodann im Mittelpunkt des Fachvortrags von Herrn Haker, Leiter des Referats IVb2 für Grundsatzfragen der Alterssicherung, Finanzierung der Rentenversicherung im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Weiterhin offenbarte der Vortrag eine wesentliche Gemeinsamkeit des chinesischen und deutschen Rentensystems: Die Finanzierung erfolgt über ein Umlageverfahren, die derzeitige Erwerbsgeneration finanziert mit anderen Worten die laufenden Renten. Für beide Länder gelte deshalb gleichermaßen: Weil in Folge einer zunehmenden Alterung der Gesellschaft immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentenempfänger aufkommen müssen, drohe mittelfristig eine Finanzierungslücke: Entweder müssten Rentenbeiträge steigen, Rentenleistungen reduziert werden, oder aber der Staat schließe die Lücke mit Steuermitteln. In Deutschland, so Herr Haker, habe man auf die demographische Herausforderung in den 2000er Jahren bereits mit einer Reihe von Reformen reagiert. Zu nennen seien hier: (1) die Riester-Reform, mit der die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge ausgebaut wurde; (2) die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors, der Veränderungen der demographischen Struktur auf die Rentenversicherung überträgt; sowie (3) die Festsetzung sog. doppelter Haltelinien, die das Beitragsniveau nach oben hin- und das Leistungsniveau nach unten hin begrenzen. Die Reformen hätten zwar zuletzt zu einer größeren Stabilität der Renten geführt, als weithin erwartet. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass sich ganze Wucht des demographischen Wandels erst mit dem Renteneinstieg der „Babyboomer“ bis zum Jahr 2035 entfalten würde (siehe Graphik).
Trotz der oben genannten fianziellen Stabilität des Rentensystems über die letzten Jahre, hat die Bundesregierung die Bundeszuschüsse jüngst ausgeweitet, um versicherungsfremde aber sozialpolitisch gewünschte Leistungen wie etwa eine Grundrente für Niedrigverdiener und die Honorierung von Kindererziehungszeiten zu finanzieren. Die Zuständigkeit für Bundeszuschüsse liegt beim Bundesministerium der Finanzen (BMF). In einem zweiten Fachvortrag fokussierte Herr Dr. Elmar Dönnebrink, Leiter des Referats IA3 für Tragfähigkeit, Demographie und Alterssicherung, deshalb die Frage, wie Deutschland die Tragfähigkeit des Rentensystems langfristig zu sichern gedenkt. Klar sei, dass dies durch Mittel aus dem Bundeshaushalt alleine nicht gelingen könne, da dieser insgesamt etwa der Summe der jährlichen Rentenleistungen entspricht. Zwar rechne das BMF damit, dass die Nettoeinwanderung die Einwohnerwahl in Deutschland – anders als in China – etwa konstant halten werde (siehe Grafik). Gleichwohl würde das Ausscheiden der Babyboomer erwartungsgemäß zu einer Abnahme des Erwerbspersonenpotentials von 1,6 bis 4,8 Mio. führen. Um das Ausmaß der demographischen Herausforderung möglichst objektiv zu beziffern und um Handlungsbedarfe frühzeitig zu identifizieren, veröffentliche das BMF alle vier Jahre einen Tragfähigkeitsbericht. Auch auf Grundlage dessen stünden derzeit einige Reformvorhaben im Raum, darunter (1) eine Wiedereinführung kapitalgedeckter Elemente; (2) die Neuausrichtung geförderter Produkte in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge als Antwort auf die Niedrigzinsphase; sowie (3) die Prüfung eines öffentlich-rechtlichen Fonds als zentrales Instrument der privaten Altersvorsorge.
Ein dritter Fachvortrag schloss sich dem nahtlos an und bot den chinesischen Gesprächspartnern einen Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Debatte zum deutschen Rentensystem. Als Mitglied des Sozialbeirats der Bundesregierung war Herr Prof. Gert Wagner dazu bestens positioniert. Demnach stünde im politischen Berlin nicht zuletzt die Frage im Raum, ob das Renteneinstiegsalter von heute 67 Jahren weiter ansteigen sollte. Dies würde einerseits die Tragfähigkeit der Finanzierung erleichtern. Andererseits würden einkommensschwache und bildungsferne Schichten besonders darunter leiden, da diese während des Berufslebens öfter körperliche Arbeit verrichteten und auf dem Arbeitsmarkt im Alter weniger gefragt seien. Weiterhin kursierten diverse Konzepte zur Reform der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Diese werde bei sinkendem Rentenniveau zum Erhalt des Lebensstandards zwar notwendig, drohe aber zugleich die soziale Ungleichheit im Alter weiter zu verstärken. Um auch Personen auf angemessenem Niveau abzusichern, die während ihres Erwerbslebens unterdurchschnittlich verdient haben, sprach sich Herr Prof. Wagner für vom strikten Äquivalenzprinzip ab. Vor dem Hintergrund besonders hoher Einkommensunterschiede in China, empfehle es sich bei der Reform des chinesischen Rentensystems auch die Erfahrungen solcher Länder miteinzubeziehen, deren Systeme eine Umverteilung explizit vorsehen, darunter die Schweiz.
In der darauffolgenden Diskussion erörterten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam Unterschiede sowie Vor- und Nachteile verschiedener Rentensysteme. Sowohl in Deutschland als in China sind z. B. Selbständige nur in Ausnahmen in der gesetzlichen Pflichtversicherung abgesichert. In beiden Ländern stellt sich mit Blick auf eine flächendeckendere Rentenabsicherung deshalb nicht zuletzt die Frage, wie man mit Unregelmäßigkeiten und Unsicherheiten bezüglich des monatlichen Einkommens Selbstständiger umgehen sollte. Dass dagegen in der Schweiz alle Erwerbstätigen im gesetzlichen Rentensystem versichert sind, trage zu einem ausgeglichenerem Einkommensniveau im Alter bei. Zugleich werde in der Schweiz weniger Umverteilung über die Einkommenssteuer erreicht. Dies zeige, dass die Reform des Rentensystems einen ganzheitlichen Blick auf öffentlichen Haushalt, Steuern und soziale Sicherungssysteme erfordere. Jedes Land müsse deshalb, so war man sich einig, die eigenen politischen Ziele und das eigene System zum Ausgangspunkt der Betrachtung machen, anstatt Aspekte anderer Systeme eins zu eins übertragen zu wollen.
Gleichwohl könne ein tiefergehendes Verständnis der Rentensysteme anderer Länder den Blick auf das eigene System schärfen und Denkanstöße für Reformvorhaben liefern. Vor diesem Hintergrund unterstrichen die Teilnehmenden verschiedentlich ihr Interesse an einem fortlaufenden Austausch zum Thema. Das Rechtsprogramm der GIZ wird diesen auch künftig gerne fachlich und organisatorisch begleiten.