Für eine Delegation der Nationalen Richterakademie der VR China organisierte das Deutsch-Chinesische Programm Rechtskooperation der GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) für die Zeit vom 16. bis 23. Juni 2024 eine Fachinformationsreise nach Deutschland und Spanien. Die fünfköpfige Delegation wurde von Herrn LI Chengbin, Leiter der Lehr- und Forschungsabteilung für Zivil- und Handelsrechtliche Verfahren an der Nationalen Richterakademie, geleitet. Die Nationale Richterakademie ist Fortbildungsstätte für Richter aus ganz China und direkt dem Obersten Volksgericht nachgeordnet. Ziel der Reise war, der Delegation das Berufsbild des Richters zu vermitteln, das in Deutschland und Spanien zu den wesentlichen Grundlagen des Rechtsstaats gehört.
Zu Beginn lernte die Delegation in Berlin bei einem Besuch des Deutschen Bundestages die Zusammensetzung und Arbeitsweise des deutschen Parlaments kennen. Im Anschluss daran stellte Herr Dr. Johannes Schlichte, Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg, die föderale Struktur Deutschlands und die Einbettung der Justiz in das Staatsgefüge vor. Herr Dr. Schlichte erläuterte das Gesetzgebungsverfahren in Deutschland und die Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Bundesrat. Zudem legte er den Gerichtsaufbau dar sowie die Stellung des Richters, einschließlich seiner verfassungsrechtlich verbürgten Unabhängigkeit.
Am nächsten Tag besuchte die Delegation eine Gerichtsverhandlung am Amtsgericht Berlin Mitte, die von Frau Katrin Kutschera, Richterin am Amtsgericht, geleitet wurde. Im Mittelpunkt stand ein Fall aus dem Verkehrsrecht, der der Delegation einen praxisnahen Einblick in die Funktionsweise des deutschen Rechtssystems gab. Nach der Verhandlung fand ein Fachgespräch mit Frau Kutschera, Frau Dr. Ragna Kretschmer, Richterin am Amtsgericht Berlin-Mitte, sowie Frau Marianne Krause, Richterin am Amtsgericht Kreuzberg , statt. Die Diskussion umfasste Themen wie die Vollstreckung in Vermögensgegenstände, die Schwierigkeiten bei der Feststellung des Vermögens von Schuldnern und die Herausforderungen im Zwangsvollstreckungsverfahren. Ebenso wurden häufige Streitpunkte im Mietrecht sowie Sanktionen bei Verkehrsdelikten thematisiert. Die Delegation war besonders interessiert an den Abläufen und der Verfahrensdauer an deutschen Gerichten.
In München führte die Delegation am 19. Juni im Justizpalast ein Fachgespräch mit Herrn Guido Tiesel, Leitender Ministerialrat vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz. Herr Tiesel erläuterte die juristische Ausbildung und die Prüfungen in Bayern und hob hervor, dass alle Juristen, also Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, in Deutschland dieselbe Ausbildung durchlaufen haben. Besonders betont er die zweigeteilte Ausbildung, bestehend aus dem Universitätsstudium und dem Referendariat, das durch zwei Staatsprüfungen abgeschlossen wird. Die Delegation war besonders interessiert an den Anforderungen, die Bayern an angehende Richter und Staatsanwälte stellt.
Am Nachmittag des 19. Juni empfingen Herr Christian Steib, Vizepräsident des Oberlandesgerichts München sowie die Richter Edith Paintner und Bernhard Gerok die Delegation. Herr Steib erklärte die Besonderheiten des bayerischen Justizsystems, darunter den obligatorischen Wechsel zwischen richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Tätigkeiten in den ersten drei Berufsjahren. Dies diene der Personalentwicklung und biete den Juristen wertvolle Erfahrungen in beiden Bereichen. Die Fragen der Delegation betrafen vor allem die Aufstiegsmöglichkeiten und den Beförderungsprozess innerhalb der bayerischen Justiz.
Am 20. Juni führte die Delegation ein Gespräch mit Frau Ida Mödl, Leitende Ministerialrätin vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz, über den Berufsweg von Richtern im Freistaat Bayern. Frau Mödl erläuterte den Einstellungsprozess und die Pflichten von Richtern, wobei sie die Bedeutung der Probezeit und der dienstlichen Beurteilungen für die berufliche Laufbahn betonte.
Frau Staatsanwältin Tanja Wagner vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz stellte die Deutsche Richterakademie vor und erläuterte die Fortbildungsprogramme für Richter und Staatsanwälte in Deutschland. Besonders hervor hob sie interdisziplinäre Fortbildungen, die psychologische und ethische Aspekte umfassen, sowie spezielle Schulungen für Richter, die in Verfahren mit Kindern tätig sind. Die Delegation stellte insbesondere Nachfragen zu Fortbildungsmaßnahmen, die sicherstellen, dass Richter auf dem neuesten Stand der Rechtsprechung und Gesetzgebung bleiben.
Am Nachmittag war Schwerpunkt des Gesprächs mit Frau Dr. Nicola Grau, Vorsitzende Richterin am Landgericht München I, das Richterdienstrecht sowie die Aufgaben des Gerichtspräsidiums, insbesondere die Verteilung der Dienstgeschäfte und die Dienstaufsicht über Richter. Frau Dr. Grau betonte, dass die Dienstaufsicht zum Schutz der Unabhängigkeit des Richters keine inhaltliche Überprüfung von Entscheidungen umfasst, sondern ausschließlich organisatorische und administrative Aspekte. Außerdem erläuterte sie, wie wichtig es in Deutschland für das Prinzip des gesetzlichen Richters ist, dass jeder Fall gemäß im voraus abstrakt definierten Regeln an den zuständigen Spruchkörper verteilt wird. So soll verhindert werden, dass die Leitung eines Gerichts durch die Zuweisung einzelner Fälle an bestimmte Spruchkörper Einfluss auf die Entscheidung nehmen kann.
Am 21. Juni traf die Delegation in Barcelona Herrn José Pablo Carrera Fernández, Leiter der Abteilung für externe und institutionelle Beziehungen an der Escuela Judicial, der spanischen Richterakademie. Er stellte die sehr praxisorientierte Ausbildung von Richtern in Spanien vor. Auf besonderes Interesse traf die Vorstellung von Simulationen sowie Praktika in verschiedenen Gerichten. Ein zentrales Thema war die Sicherstellung der richterlichen Unabhängigkeit während des gesamten Berufsweges.
Am Nachmittag erläuterte Professor Xavier Arbós Marín, ein Experte für Verfassungsrecht an der Universität Barcelona, die verfassungsrechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz in Spanien und die Funktion des Generalrats der Justiz, der für die Ernennung und Beförderung von Richtern zuständig ist. In der anschließenden Diskussion stellte die Delegation insbesondere Fragen zu den Mechanismen, die in Spanien die Unabhängigkeit der Justiz sichern und bei der Ernennung von Richtern politische Einflussnahme ausschließen sollen.