Vom 09. bis 18. Mai 2017 besuchte eine zwölfköpfige chinesische Richterdelegation Nordrhein-Westfalen. Die Delegation umfasste sowohl Vertreter des Obersten Volksgerichts der VR China als auch der Oberen und Mittleren Volksgerichte des Autonomen Gebiets Ningxia der Hui-Nationalität, der Provinz Gansu und der Regierungsunmittelbaren Stadt Tianjin.
Zu Beginn der Reise wurde die Delegation im Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen von Staatssekretär Krems empfangen. Die Richterinnen und Richter wurden mit Staatsaufbau und Justizsystem der Bundesrepublik Deutschland sowie mit der Juristenausbildung in Deutschland vertraut gemacht.
Im Mittelpunkt der Delegationsreise stand sodann der fachliche Austausch mit deutschen Richterkollegen am Landgericht Essen, am Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen sowie am Oberlandesgericht Köln. In Workshops wurden Fragen zu Gerichts- und Rechtsalltag aus unterschiedlichen Rechtsgebieten thematisiert und lebhaft diskutiert. Viele der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten bereits Erfahrungen mit der chinesischen Rechtskultur aus vorherigen Richteraustauschreisen oder der Mitwirkung am von der GIZ durchgeführten Trainingskurs zur Rechtsanwendungsmethodik an der Nationalen Richterakademie in China.
Ein erster Schwerpunkt der Workshops betraf die Klageerhebung bei Gericht. Der Leiter der chinesischen Delegation, zugleich Vorsitzender der Abteilung für Klageeingänge am Obersten Volksgericht, die allein 50 Richter beschäftigt, stellte Herausforderungen bei der Organisation des Klageeinganges in China dar, die nicht zuletzt aus der Größe des Landes resultierten: Wegen der Distanzen sei es oftmals umständlich, eine Klage beim an sich zuständigen Gericht am Sitz des Beklagten zu erheben. Daher könne der Kläger sich an ein Gericht an seinem Sitz zu wenden, welches die Klage dann weiterleite. Zudem würde zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Klagen auf elektronischem Wege zu erheben. Die deutschen Teilnehmer hoben im Zusammenhang mit dem Eingang von Klagen bei Gericht vor allem deren Verteilung auf einzelne Spruchkörper nach zuvor abstrakt aufgestellten Kriterien hervor. Diese Geschäftsverteilung sei für die Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der sodann entscheidenden Richterinnen und Richter von höchster Bedeutung.
Erörtert wurden auch Fragen der effektiven Rechtsdurchsetzung. Eine große Herausforderung ist im chinesischen Rechtssystem derzeit der Schutz des Gläubigers vor Vermögensverschiebungen durch den Schuldner zwischen Klageerhebung und Urteilsvollstreckung. Hier wurde jüngst die Möglichkeit eingeführt, mit der Klageerhebung auch Maßnahmen des Gerichts zur vorläufigen Vermögenssicherung zu erwirken. Die Funktionsweise des vorläufigen Eilrechtsschutzes im deutschen Verwaltungsprozess wurde den chinesischen Richterkollegen später auch am Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen anhand eines Rollenspieles veranschaulicht.
Problematisch ist in China weiter die Verfahrensdauer in Rechtsmittelverfahren. Gerade bei der Weiterleitung der Gerichtsakten an die Rechtsmittelinstanz kommt es häufig zu Verzögerungen. Auch in Deutschland ist die Weiterleitung der Gerichtsakten nicht gesetzlich geregelt. Trotzdem erfolgt sie in der Regel unverzüglich – worüber sich die chinesischen Richterkollegen erstaunt zeigten.
Die Digitalisierung der Gerichtsorganisation war weiteres Thema der Diskussionen. Während die Einführung der elektronischen Akte an deutschen Gerichten noch weitgehend aussteht, sind Auf- und Ausbau der elektronischen Kommunikation bei und mit den Gerichten in China bereits weit fortgeschritten. Neben der Klageerhebung auf elektronischem Wege erfolgen inzwischen auch die Protokollierung von Gerichtsverhandlungen (mittels Spracherkennungstechnologie) sowie die (Online-)Veröffentlichung von Informationen über laufende Verfahren und Gerichtsentscheidungen in digitaler Form. In Deutschland prominente (verfassungsrechtliche) Bedenken betreffend die Gewährleistung von Privatsphäre und Datenschutz werden auf chinesischer Seite kaum geteilt.
Einen weiteren Schwerpunkt des Austauschs stellten Aufbau und Finanzierung der Justiz dar. Während in Deutschland die Aufsicht über die Justizverwaltung den jeweiligen Justizministerien obliegt, ist hierfür in China das Oberste Volksgericht zuständig. Mehr als die Hälfte der Abteilungen des Obersten Volksgerichts nimmt Aufgaben der Justizverwaltung wahr; lediglich der Rest ist mit der Entscheidungen von Rechtsfällen befasst. Obwohl nicht eine Behörde die Gerichtsaufsicht führt, genießen die Gerichte in China weniger Unabhängigkeit als diejenigen in Deutschland. Ausdruck aktueller Bestrebungen der chinesischen Staatsführung, die richterliche Unabhängigkeit zu stärken, ist etwa die Verlagerung der Befugnis zur Budgetzuteilung von den lokalen Regierungen auf das Oberste Volksgericht. Zum Haushalt der Gerichte auf Provinzebene tragen die Zentralregierung und der jeweilige Provinzhaushalt bei. Da die Provinzen sehr unterschiedliche Budgetvolumina aufweisen, unterscheiden sich auch die Gehälter der Richter in den verschiedenen Provinzen stark.
Schließlich wurden noch Fragen des Beweisrechts im Verwaltungs- und im Zivilprozess behandelt. Hier ließen sich viele Gemeinsamkeiten beider Rechtskreise feststellen. So wird etwa im Zivilprozessrecht einheitlich von dem Grundsatz ausgegangen, dass jede Partei die für sie günstigen Tatsachen beweisen muss. Auch gibt es in beiden Ländern ähnliche Beweiserleichterungen im Bereich von Arzt-, Tierhalter- und Produkthaftung.
Über den fachlichen Austausch in den Arbeitsgruppen hinaus besuchte die chinesische Richterdelegation eine Strafverhandlung vor dem Landgericht Bochum. Die – simultan übersetzte – Verhandlung über den Vorwurf des Fahrens ohne Fahrerlaubnis war Anlass eines angeregten Meinungsaustauschs: Die chinesischen Richterkollegen zeigten sich überrascht angesichts des wenig autoritären Auftretens der Vorsitzenden Richterin und der Äußerungsbefugnisse des Angeklagten. Auch wurde mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass ein eher als Bagatelle einzustufender Tatvorwurf überhaupt vor einer Kammer des Landgerichts verhandelt wurde. In China ist in derartigen Fällen die Verhängung einer sog. Verwaltungsstrafe durch die Polizei möglich, die sogar auf Freiheitsentziehung lauten kann. Dies wiederum war für die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer schwer nachvollziehbar, ist die Entscheidung über Freiheitsentziehungen nach dem Grundgesetz doch ausdrücklich einem Richter vorbehalten, was als elementarer Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstanden wird.
Besonderes Interesse hatten die Teilnehmer der Delegationsreise an der Landtagswahl, die gerade in NRW stattfand. Die vielen Wahlplakate und Gespräche mit Wählern und Wahlhelfern in einem Wahllokal vermittelten den chinesischen Richterkollegen einen Eindruck von Ablauf und Bedeutung der Landtagswahl. Am Wahlabend konnte die Delegation dann die ersten Hochrechnungen der Ergebnisse live mitverfolgen – und mit der Abwahl der aktuellen Landesregierung gelebte Demokratie erfahren.
Während der gesamten Reise hatten die Delegationsteilnehmer außerdem Gelegenheit, das Ruhrgebiet und seine Traditionen näher kennenzulernen, etwa mit Besuchen der Villa Hügel und der Zeche Zollverein sowie während eines Fußballbundesligaspiels im ausverkauften Stadion „auf Schalke“. Die chinesischen Richterinnen und Richter beeindruckte vor allem der erfolgreiche Wandel der Region vom durch Umweltverschmutzung geplagten Industriestandort zu einer der grünsten Gegenden Europas.