Am 20. Juni 2023 fand in Peking eine Online-Dialogveranstaltung zum Thema „Strafzumessung“ statt. Die Veranstaltung wurde gemeinsam vom Deutsch-Chinesischen Programm Rechtskooperation der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und dem Obersten Volksgericht der Volksrepubklik China organisiert. An dem Seminar nahmen Richterinnen und Richter aus China und Deutschland teil.
Dr. Marco Haase, Leiter des Deutsch-Chinesischen Programms Rechtskooperation, betonte in seiner Begrüßung die Bedeutung der Strafzumessung in der Rechtspraxis. Er hob hervor, dass eine klare Abgrenzung zwischen verschiedenen Delikten ebenso wichtig ist wie die Festlegung angemessener Strafen. Es sei entscheidend, dass die Strafzumessung vorhersehbar und vergleichbar ist, um das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Gerichte zu stärken.
In seinen einleitenden Worten stellte Herr Cheng Xueyong die Reformen im chinesischen Strafjustizsystem vor. Seit 2004 wurden umfangreiche Bemühungen unternommen, die Strafzumessung zu verbessern. Im Jahr 2020 wurden Leitlinien zur Standardisierung der Strafzumessung erlassen, deren Anwendung seit Juni 2021 erprobt wird. Herr Cheng Xueyong betonte, dass die in den letzten Jahren in der Volksrepublik China eingeführten Rechtsreformen darauf gerichtet sind, die Rechtsprechung an das wachsende Bedürfnis des chinesischen Volkes nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzupassen und die Arbeitspraxis der Gerichte weiter zu verbessern. Dies gelte auch und gerade für den Bereich der Strafzumessung.
Der erste Themenblock der Veranstaltung betraf das Thema „Probleme bei der Strafzumessung und entsprechende Lösungsansätze“. In einem Impulsreferat stellte Frau Li Zhanmei, Richterin der Strafkammer III des Obersten Volksgerichts, dieses Thema aus chinesischer Sicht dar. Sie erläuterte die beiden Elemente der Urteilsfindung in Strafsachen, den Schuldspruch und den Strafausspruch und erklärte, dass in den Praxis mangels einheitlicher Regeln für die Strafzumessung dazu kommen könne, dass gleichartige Fälle höchst unterschiedlich beurteilt werden. Um hier Abhilfe zu schaffen, seien die Leitlinien für die Strafzumessung entwickelt worden, um eine ausgewogene und faire Strafzumessung zu schaffen, die den nationalen Gegebenheiten entspreche. Die Leitlinien zielten darauf ab, die Strafzumessung durch objektive und nachprüfbare Kriterien zu präzisieren. Dabei werden zunächst die Tatbestandsmerkmale quantifiziert und die Mindesthöhe der jeweiligen Strafe festgelegt, um den in der anwendbaren Vorschrift vorgesehenen Strafrahmen angemessen einzugrenzen. Die Leitlinien führen sodann die für die Strafzumessung maßgeblichen tat- und täterbezogenen Umstände auf, aus denen letztlich die Strafe gebildet wird. Gerichte sollten sich bei der Strafzumessung weiterhin auf ihre Berufserfahrung stützen und alle relevanten Umstände des Einzelfalls umfassend prüfen. Die Ermessensspielräume sollten angemessen ausgeübt werden.
Anschließend stellte Herr Dr. Johannes Schlichte, Richter am Landgericht bei dem Landgericht Hamburg, in seinem Beitrag zunächst die Praxis der Strafzumessung in Deutschland dar. Er betonte, dass die Strafzumessung eine originäre Aufgabe des Tatrichters ist, die mit einem weiten Ermessensspielraum und dadurch einer großen Verantwortung einhergeht. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen ausschließlich eine lebenslange Freiheitsstrafe angedroht wird, weisen Strafvorschriften in Deutschland einen relativ weiten Strafrahmen auf, innerhalb dessen die Gerichte unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände die im Einzelfall angemessene Strafe zu bestimmen haben. Dr. Schlichte erklärte sodann das Verfahren zur Aburteilung mehrerer Straftaten in einem Urteil. Hier findet keine bloße Addition der Einzelstrafen statt, sondern es wird durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe eine Gesamtstrafe gebildet. Kommt es zur Verurteilung, werden in Deutschland in etwa 80 Prozent der Fälle Geldstrafen verhängt, während auf Freiheitsstrafen mit Strafaussetzung zur Bewährung ein Anteil von etwa 15 Prozent und auf Freiheitsstrafen ohne Bewährung ein Anteil von nur etwa fünf Prozent entfällt.
Bei Massendelikten hat sich eine einheitliche Strafzumessungspraxis entwickelt, was auf eine einheitliche Strafantragspraxis der Staatsanwaltschaften, aber auch auf den internen Austausch innerhalb der Richterschaft zurückzuführen sei.- Dennoch geben es in Deutschland feststellbare regionale Unterschiede bei der Strafzumessung, sowohl hinsichtlich des Strafmaßes als auch hinsichtlich der Frage, ob eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird oder nicht. Das sei unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht unproblematisch.
In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde wurden unter anderem die Möglichkeit einer Vereinheitlichung der Strafzumessung durch Richtlinien, die Wahrnehmung der unterschiedlichen Strafzumessungspraxis durch die Bevölkerung, der Einfluss der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung auf die Rechtsprechung sowie das Verfahren bei der Entscheidung zwischen Geld- und Freiheitsstrafe erörtert.
Der zweite Teil der Veranstaltung betraf die Standardisierung der Strafzumessung und deren Wirkungen.
Herr Zhou Lisun, stellvertretender Vorsitzender der Strafkammer III am Oberen Volksgerich tder Provinz Hubei, stellte in seinem Beitrag die Strafzumessungsreform in China vor. Die probeweise Anwendung der neuen Leitlinien zur Strafzumessung sei inzwischen auf weitere Straftatbestände ausgedehnt worden. Der Referent betonte die Bedeutung der Umsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips und einer gerechten Rechtsprechung bei gleichzeitiger Wahrung des in jedem Einzelfall bei der Strafzumessung bestehenden Ermessensspielraums der Gerichte.
Herr Zhou Lisun stellte schließlich die Erfahrungen mit der neuen Strafzumessungspraxis in der Provinz Hubei dar. Durch die Standardisierung und Vereinheitlichung der Strafzumessung seien überholte Praktiken aufgegeben worden. Es seien klare und transparente Methoden und Kriterien zur Strafzumessung entwickelt worden, was zu einer gerechteren Strafzumessung und größerer Zufriedenheit mit der Rechtsprechungspraxis geführt habe. Die Reform habe auch zur Bekämpfung von Korruption bei Gerichten beigetragen.
Insgesamt werde das reformierte Verfahren zur Strafzumessung als gerecht und transparent angesehen. Der Anteil an Geständnissen und Verständigungen zwischen den Verfahrensbeteiligten sei seit der Reform signifikant gestiegen, und die Autorität der Gerichte sei gestärkt worden.
Herr Norbert Feige, Rechtsberater im Deutsch-Chinesischen Programm Rechtskooperation, stellte in seinem Beitrag die Vereinheitlichung der Strafzumessung in Deutschland dar. Er betonte, dass eine einheitliche Strafzumessung in Deutschland verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Er diskutierte die Möglichkeit der Einführung von Richtlinien zur Strafzumessung in Deutschland und ging dabei auch auf die in anderen Ländern, insbesondere im angloamerikanischen Raum praktizierten Modelle ein. In Deutschland würden solche Richtlinien im Widerspruch zu der grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit der Richter stehen.
Eine Möglichkeit der Vereinheitlichung der Strafzumessung in Deutschland sei die Regelung von Sonderzuständigkeiten für bestimmte Delikte oder Deliktsgruppen innerhalb der einzelnen Gerichte. Eine wesentliche Rolle komme aber vor allem den Rechtsmittelgerichten zu, die zu einer einheitlichen Strafzumessung beitragen, indem sie im Einzelfall auf eine Abänderung unangemessener Strafen hinwirken und dadurch zugleich einen Orientierungsrahmen für die nachgeordneten Gerichte schaffen.
In der anschließenden Frage- und Diskussionsrunde ging es unter anderem um die Auswirkungen der chinesischen Leitlinen zur Strafzumessung auf das Verfahren der Gerichte sowie um die Verfahrensweise in Deutschland nach einer Aufhebung einer Entscheidung zum Strafausspruch durch das Rechtsmittelgericht.
Herr Dr. Haase betonte in seinen Schlussworten, dass die Strafjustiz immer ein Spiegel des gesellschaftlichen Klimas ist. Es ist entscheidend für die Akzeptanz der Justiz, dass sie von der Gesellschaft als gerecht wahrgenommen wird. In Deutschland gebe es zwar regionale Unterschiede bei der Strafzumessung, doch werde dies allgemein nicht als wesentliches und reformbedürftiges Problem angesehen. Die Bevölkerung habe Vertrauen in die Justiz, weshalb es keine Bestrebungen gibt, die gesetzliche Unabhängigkeit der Richter einzuschränken.
Herr Cheng Xueyong hob in seinen Schlussworten die hohe Bedeutung des fachlichen Austausches zwischen China und Deutschland hervor. Hierdurch sei es möglich, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den beiden Ländern herauszuarbeiten und voneinander zu lernen. Bei der Strafzumessung gehe es in beiden Ländern entscheidend darum, im Einzelfall die für die Tat und den Täter angemessene Strafe zu bestimmen. Herr Cheng Xueyong äußerte die Hoffnung, dass der fachliche Austausch zwischen beiden Ländern fortgesetzt werden könne.